Wie schaffen wir heute Erinnerungen?

Janina Tix

Auf dem Foto ist eine Musikfestivalszene während eines Auftritts eines DJs zu sehen. Quelle dafür war ein Short auf YouTube. Das Erste, was auffällt, ist die Animation, die auf der riesigen Leinwand gezeigt wird. Leider konnte ich nicht herausfinden, ob diese Animation von Menschen oder einer künstlichen Intelligenz kreiert wurde. Mit Sicherheit lässt sich aber sagen, dass die Animation die tausenden Besucher absolut fasziniert, denn jeder scheint das Handy in der Hand zu haben, um die Animation zu filmen und eine Erinnerung zu schaffen, die nicht ausschließlich im Gedächtnis existiert. Tausende Menschen, die dieselbe Situation zum Teil aus fast identischer Perspektive aufnehmen. Erstaunen und Begeisterung zieht den Griff nach dem Handy nach sich. Auf dem Foto natürlich nicht zu sehen, aber selbst als die Musik dazu anregt das Tanzbein zu schwingen, bleiben die meisten Handys unbewegt. Der Vernunftbegabte würde jetzt wahrscheinlich fragen, was denn da los ist? Sollten die Menschen dort nicht tanzen und Spaß haben?

Es hat den Anschein, dass die Menschen mehr Wert auf eine greifbare und vorzeigbare Erinnerung für später legen als auf das Erleben selbst. Eine Erinnerung, die nicht auf die Erzählkünste des Menschen angewiesen ist, der diese erlebt hat. Vielleicht geht es aber auch darum, nachweisen zu können dabei gewesen zu sein, denn das zahllose Aufnahmen dieser Situation vorhanden sind, muss jedem, der gefilmt hat, aufgefallen sein.

Man stelle sich vor, was dort wohl vor sich ginge, wenn die Menschen keine Handys in der Hand hätten. Würden sie ihre Umwelt nicht ausschließlich durch ihre eigenen Augen wahrnehmen, ihr Erstaunen mit den Menschen um sich herum aktiv teilen? Oder würden sie ihrer Begeisterung mit körperlicher Bewegung gemeinsam Ausdruck verleihen? Wäre der Moment nicht ohne Handy mit deutlich höherer zwischenmenschlicher Interaktion gefüllt, also ein riesiger Raum für Resonanz? Hier lohnt es sich nach Bildern vom Woodstock Festival 1969 zu suchen. Dort lässt sich sehr gut betrachten, wie eine derartige Situation aussehen könnte, wenn keine Handys anwesend sind. Während des Kurses haben wir festgehalten, dass Medien und deren Nutzung unsere Kommunikation immer wieder anregen, aber könnte man nicht vielleicht auch behaupten, dass Medien und deren Nutzung unsere Kommunikation in gewisser Weise einschränken?

Ein Handy in der Hand, der Fokus auf das “gute“ Filmen gelegt und der Rest der Aufmerksamkeit ist dem Handybildschirm gewidmet. Wie viel Raum ist da noch für Kommunikation in jeglicher Art und Weise?

 Bei einem erneuten Blick auf das Foto kommt mir der Gedanke, dass die Anwesenden genau in diesem Moment, den wir sehen, eben nicht mehr sind als anwesend. Ich persönliche unterscheide zwischen “anwesend sein“ und “dabei sein“ und denke, um tatsächlich in einer Situation “dabei zu sein“ ist Kommunikation in Form von Sprache, Gestik, Mimik und meinetwegen auch Tanz (Ganzkörper-Bewegungen) unabdingbar. Diese Kommunikation schafft Gedanken oder Emotionen, die den Moment füllen und einer Erinnerung Kraft verleihen können. Ich glaube, die Menschen hätten mehr von der Situation gehabt, wenn sie ihre Handys weggesteckt hätten. Hätten das aber alle getan, hätte ich kein Essay über die Szene schreiben können.

Ich habe außerdem über die Zeit nachgedacht, in der der Mensch gewöhnlich nur sein Gedächtnis hatte, um sich zu erinnern. Wie hat dieser Mensch von seinen Erlebnissen berichtet? Die Menschen damals waren gezwungen die Bilder in ihrer Erinnerung mit Worten, Zeichnungen oder Gemälden darzulegen, denn die Fotografie ist bekanntlich sehr jung im Vergleich zur Tradition. Die eigenen Erinnerungen, Erlebnisse und Gedanken zu verbalisieren, ist mit mehr Mühe verbunden als eine Fotografie vorzulegen, wie es heute passiert. Natürlich bedeutet es nicht, dass verbale Kommunikation zwangsläufig wegfällt, sobald Erinnerungen in Form von Bildern und Fotografien für die Wiedergabe genutzt werden. Es ist immer eine Frage der persönlichen Mediennutzung und des Nutzens. Wenn die Omi nicht mehr so gut hört, aber noch Adleraugen besitzt, ist es großartig ihr die Urlaubsfotos vorlegen zu können. Bei dem blinden Freund sind diese weniger gut aufgehoben, Worte dafür umso besser.

Ich werde mich in Zukunft auf jeden Fall ein zweites Mal selbst fragen, ob das Handy, ein Foto oder Video wirklich nötig ist um eine gute Erinnerung zu schaffen.