Der/die Held/in der eigenen Geschichte sein – Selbstverwirklichung in Videospielen

Tim Griffel

So verlockend die Möglichkeiten der Realitätsflucht (Eskapismus) und Selbstauslebung sind, so gefährlich können sie natürlich auch sein – aber sollte man sie deshalb ganz verbieten? Ist es nicht viel mehr eine Chance, eine Erfahrung von Mehrwert, wenn man es schafft, den eigenen Medienkonsum zu reflektieren, nachdem man ihn selbst authentisch erlebt hat?

Unter dem Diadem aus Elfenbein und Silber gleitet ihr azurblauer Blick in die Ferne, indessen die einstige Königin durch den Nebelschweif der Berggipfel schreitet, auf der Suche nach einem längst vergessenen Kloster. – Dies könnte der Anfang einer der literarischen Werke eines Poes oder Eichendorffs sein. Tatsächlich ist es aber nur einer der vielen poetischen Momente, die man in der Videospiel-Reihe Dark Souls (FromSoftware, 2011/14/16) genießen kann, indem man seinen Character durch die zahlreichen an Gemälde anmutenden Landschaften dieser digitalen Welt führt und so manches Abenteuer beschreitet. Dazu jedoch später mehr.

Zunächst ein Blick auf die Realität: Die Diskussion um Videospiele während der stetigen Entwicklung der Branche ist äußert kontrovers gestaltetet und geprägt von Gesellschaftskritik sowie Präventionsstrategien. Als Kinder und Jugendliche das Schießen in dem vermeintlich von der US-Army für Soldaten entwickelten Shooter Counter Strike (Valve Production, 1999) ausprobieren konnten oder man einer ganzen Generation die Gaming-Sucht durch MMORPGs (Massively Multiplayer Online Role-Playing Games) wie World of Warcraft (Blizzard Entertainment, 2004) oder der Diablo-Reihe (Blizzard Entertainment, 1997 – 2017) vorwarf, als Zahlen über die Konsummaße der Nutzer veröffentlicht wurden (unter anderem über 30 Stunden die Woche) – da erlitt das Image von Videospielen in den öffentlichen Medien eine harsche Kritik und es machte sich das allgemeine Meinungsbild breit: Videospiele sind gefährlich für die Entwicklung von Kindern, sie machen abhängig und man sollte sie verbieten.

Dass die Vorwürfe dem Videospiel-Medium gegenüber häufig nicht nur verzerrt (der Durchnittsspieler von World of Warcraft spielt beachtlich weniger Stunden), sondern auch faktisch falsch sind (Counter Strike wurde nicht von der US-Army in Auftrag gegeben, dies war nur eine populistische Aussage des Politikers Günther Beckstein), erschwert die Diskussion enorm und lenkt vor allem von einer reflektiert-offenen Grundhaltung gegenüber Videospielen ab. Aus diesem Grund soll der folgende Essay den Blick auf einen Aspekt der zu Unrecht verpönten Games werfen, in dem sich jeder persönlich wiederfinden kann: Die Selbstverwirklichung in Videospielen.

Wenn wir ein Buch lesen, eröffnet sich uns eine völlig neue Welt: Durch die Beschreibungen des Erzählers lernen wir fantastische Orte voller Gefahren wie auch Wunder kennen oder erleben die Abenteuer von heldenhaften wie auch manchmal sehr zwielichtigen Figuren, die sich komplett unserer Realität entziehen – und doch sind wir fasziniert von diesen Geschichten. In der Welt der Videospiele ist das nicht anders, bloß dass man dort die Möglichkeit hat, seine/n eigene/n Protagonisten/in zu spielen und individuell zu gestalten. Das vorangehende Bild stellt zum Beispiel meinen aktuellen Character im dritten Teil der Dark Souls Reihe dar (übrigens verflixt herausfordernde Spiele): Ihre Gestalt ziert das Gewand einer Königin, ihre dunklen Haare sind zu einem geflochtenen Pferdeschwanz zusammengebunden und was ihre Kampf- und Zauberkünste angeht, so ist sie mit allen Wassern gewaschen. Und das ist die Figur, die ich spiele, die ich mir ausgedacht habe – meine eigene Heldin. In Videospielen ist es nämlich völlig egal, welche Hautfarbe, welches Geschlecht oder welche Körperproportionen man im richtigen Leben hat – die Grenzen sind einzig durch die eigene Kreativität bestimmt.

Überdies werden die Entscheidungenmöglichkeiten durch die Ideen der Videospielentwickler immer offener und herausfordernder. So ist es in Spielen wie Beyond: Two Souls (Quantic Dream, 2013) oder Life Is Strange (Dontnod Entertainment, 2015) möglich, dass man fast den
kompletten Handlungsverlauf sowie das Ende des Spiels durch die eigenen Entscheidungen beeinflussen kann. Hierbei schlüpft man in die Rollen der mit außergewöhnlichen Kräften ausgestatteten Protagonistinnen Jodie Holmes und Max Caulfield und lernt deren komplexe Persönlichkeiten, deren Schwächen und Stärken kennen. Auf einmal findet man sich in neuen Lebenssituationen wieder und muss nach dem eigenen Gewissen Entscheidungen treffen. In Beyond: Two Souls erfahren wir etwas über Jodies schreckliches Geheimnis ihrer Kindheit und auch die Mitschuld ihres Vaters. Und plötzlich werden wir als Spieler vor die Entscheidung gestellt, ob Jodie ihren Vater wiedersehen möchte oder nicht. In Life Is Strange wiederum erlebt Max, eine 18-jährige Fotografiestudentin, welche die Gabe hat, die Zeit zurückzudrehen, den Selbstmord einer Mitschülerin und setzt daraufhin alles daran, diesen zu verhindern. Ob ihr das am Ende gelingt, hängt allerdings ganz von unseren Entscheidungen als Spieler ab.

Auch der historische Erfolg des Sandbaukastensimulators Minecraft (Mojang Studios, 2009) in nostalgischer Pixelgrafik liegt nicht zuletzt darin begründet, dass die Möglichkeiten der kreativen Selbstentfaltung in diesem Spiel schier unendlich sind. Wer sich einmal in die virtuelle Realität von Minecraft aufgemacht hat, sein eigenes Haus (oder das ganze eigene Königreich) aus dem Nichts geschaffen und die Geheimnisse dieser Welt ergründet hat, der wird so schnell das Fenster nicht mehr schließen wollen. Es ist einfach zu verlockend, alles nach den eigenen Wünschen und Vorstellungen gestalten zu können. Schließlich inspiriert das Videospiel mit der eigenwilligen Graphik eine Vielzahl an Spielern zu eigenen Minecraft Illustrationen, YouTube-Let‘s Plays und eigens produzierten Kinofilmen – die ganze soziale Dimension von Videospielen noch nicht einmal eingeschlossen.

In der Videospielbranche hat sich einiges getan, seit zum ersten Mal die kantigen weißen Vierecke über den schwarzen Bildschirm geflogen sind. So ist auch der Blick auf Videospiele ein weitaus differenzierter geworden, während manche Eltern sie immer noch als süchtig machende Killerspiele ohne Sinn und Zweck verteufeln – und das ist sogar gut so! Es zeigt nämlich, dass sich kritische Gedanken gemacht werden und man sich um die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern sorgt. An dieser Stelle ist ein medienpädagogischer Ansatz gefragt. Man muss mit Kindern und Jugendlichen ins Gespräch darüber kommen und Inhalte (wie geschlechtsspezifische Rollenbilder und Gewaltdarstellungen) reflektieren. So verlockend die Möglichkeiten der Realitätsflucht (Eskapismus) und Selbstauslebung sind, so gefährlich können sie natürlich auch sein – aber sollte man sie deshalb ganz verbieten?

Ist es nicht viel mehr eine Chance, eine Erfahrung von Mehrwert, wenn man es schafft, den eigenen Medienkonsum zu reflektieren, nachdem man ihn selbst authentisch erlebt hat?

Ich selbst war jahrelang süchtig, was das Spielen von Videogames angeht, doch heute kann ich beurteilen, was das für ein Gefühl ist. Ich kann beide Realitäten in eine Balance bringen. Bildungs- und Berufserfolg schließen zahlreiche Stunden an Freude und Abenteuern in Videospielen nicht aus. Beim Umgang mit Medien kommt es auf die eigene Persönlichkeit, die eigene Reflexion an: Was suche ich eigentlich in Medien, was ich im richtigen Leben nicht habe? In Videospielen habe ich zu einem Großteil mich selbst gefunden. Jeder kennt das Gefühl, eine Geschichte zu lesen, in der man sich selber entdeckt. Viel anders ist es auch nicht mit Videospielen, auch wenn man sich in beiden Medien manchmal gerne verliert. Aber Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene wachsen an ihren Selbsterfahrungen, den Möglichkeiten, sich selbst auszudrücken. Was mich selbst angeht, so mache ich mich jetzt wieder auf in die Welt von Dark Souls, denn ich möchte unbedingt wissen, wie meine Geschichte weitergeht.

Literaturverzeichnis:
Klaus, S.-H.: Game Studies: Aktuelle Ansätze der Computerspielforschung, Klaus-Sachs Hombach und Noël Thon (Hrsg.), Herbert von Halem Verlag 2015.

Süss, D.; Lambert, C.; Trültzsch-Wijnen, C. W.: Medienpädagogik. Ein Studienbuch zur Einführung, in Günter Bentele, Hans-Bernd Brosius und Otfried Jarren (Hrsg.): Studienbücher zur Kommunikation- und Medienwissenschaft Bd. 12, Springer VS³ 2018.

https://www.gamestar.de/artikel/guenther-beckstein-us-armee-entwickelte-counter-strike,1959205.html , zuletzt abgerufen am 16.06.2020, 8:07 Uhr.

https://www.gamestar.de/artikel/world-of-warcraft-wie-viel-zeit-investieren-die-spieler,2319989.html , zuletzt abgerufen am 16.06.2020, 7:20 Uhr.

https://www.computerbild.de/artikel/cbs-News-Minecraft-23400913.html , zuletzt abgerufen am 16.06.2020, 7:46 Uhr.

Fotocredit:
Foto: Dark Souls III (FromSoftware, 2016), Screenshot: Tim Griffel.