Unbegrenzte Möglichkeiten (der Ablenkung)

Alexander Schiffke

Ob im Klassenzimmer sitzen und dem Insta-Feed auf dem Handy mehr Aufmerksamkeit schenken als dem Unterricht, oder eine Online-Vorlesung besuchen und dabei auf dem zweiten Bildschirm ein Videospiel spielen und nur mit einem Ohr zuhören – mit der Entwicklung neuer Lernangebote und -möglichkeiten haben sich parallel auch neue Ablenkungsmöglichkeiten entwickelt. Das dargestellte Beispiel zeigt, wie auf dem einen Bildschirm weitgehend unbeobachtet eine Vorlesung stattfindet, während die Aufmerksamkeit ganz woanders – auf dem zweiten Bildschirm und dem darauf gespielten Spiel – liegt.
Gerade Online-Lernangebote (seien es Vorlesungen oder interaktiver Unterricht) sind besonders anfällig für Ablenkung, da meist kaum bis gar keine Möglichkeit besteht, zu prüfen, was
TeilnehmerInnen nebenbei tun. Wer keine Kamera an hat, wird zum Geist und kann im Netz herumspuken, wie er oder sie möchte. Und selbst mit Kamera ist kaum aufzumachen, worauf jemand sich gerade fixiert. Und das gilt nicht nur für Phasen des Frontalunterrichts. Auch Gespräche oder Aufgaben, die vermeintlich die ganze Konzentration erfordern, können „nebenbei“ gemacht werden, während man auf dem anderen Bildschirm einen Film schaut oder Musik in gerade der richtigen Lautstärke hört, dass man dem Gespräch noch folgen kann.
Auch im Klassenzimmer ist die Gefahr der Ablenkung aber allgegenwärtig. Wenn Handys nicht vor jeder Stunde einkassiert werden, ist es schwierig, alle SchülerInnen vom gelegentlichen Blick auf das Display abzuhalten. Insbesondere in Einzel- und Gruppenarbeitsphasen kann ein Blick aufs Handy zu Recherchezwecken schnell zu einem längeren Online-Aufenthalt einladen, wenn eine Benachrichtigung aus Social Media aufploppt und über Neuigkeiten informiert, die viel interessanter scheinen als die Aufgaben.

Ich selbst habe schon in manchen Online-Vorlesungen mit dem Drang zu kämpfen gehabt, nebenbei etwas Anderes tun zu wollen und meine Aufmerksamkeit diesem Anderen zuzuwenden. So sorgen die Möglichkeiten der Digitalisierung einerseits für einen wesentlichen Bonus an Effizienz und Einfachheit, da Stunden an Wegzeit wegfallen, wenn eine Veranstaltung online statt in Präsenz stattfindet, andererseits aber auch für Risiken und die Notwendigkeit von Selbstdisziplin, um überhaupt etwas zu lernen.
Fazit: Was früher vielleicht einmal der gelangweilte Blick aus dem Fenster war, hat sich im Zuge der technischen Evolution zu einem schier endlosen Arsenal an Ausblicken und Alternativen zu langweiligem Unterricht entwickelt, dessen Unterrichtende sich bewusst sein sollten. Sie müssen eigentlich immer mit der Gefahr leben, SchülerInnen an das Internet zu verlieren, sofern sie nicht vor jeder Unterrichtseinheit alle Handys einsammeln – und das funktioniert natürlich auch nur in Präsenz. Man kann es allerdings (mit etwas Mühe) auch positiv auslegen: Das große Angebot an Ablenkungen kann auch als Messlatte für die Qualität des Unterrichts herhalten und Unterrichtenden einen Einblick geben, wie groß der Anteil der Interessierten in der Klasse ist. So kann das Medienangebot der Rivale des Unterrichts sein, der diesen zu stetig neuen Bestleistungen und Höhen animiert.