Was wir in unseren Händen halten

Annika Schilling

Es ist nicht leicht, im Jahre 2022 ein junger Mensch zu sein. Nicht zu wissen, ob in 30 Jahren noch genug Trinkwasser im Sommer vorhanden sein wird. Was überhaupt noch wachsen kann und was aus den Supermärkten verschwindet. Wie man sich mal ein Haus oder eine Wohnung leisten können soll. Was passiert, wenn man alt wird, ob so etwas wie eine Rente oder Plätze im Pflegeheim existieren werden. Ob man im Laufe des Lebens nochmal eine andere Staatsform als Demokratie und Frieden durchleben müssen wird.
Wenn ich an einem Dienstagnachmittag durch die Straßen von Winterhude spaziere, sehe ich in Pastell gekleidete, porenlose Menschen mit wohl frisierten Hunden in Cafés entspannen, um die Ecke geparkt der SUV. Sie unterhalten sich über Yoga-Retreats, Zweitwohnsitze, Investoren-Meetings und erfolgreiches Branding. Ich habe dabei konstant das Gefühl, mich durch eine Art Simulation zu bewegen, die mir suggerieren soll, wir hätten es doch alle geschafft, alles ist vorhanden und wird sich noch vermehren, wir dürfen alles, alles geil, also los, jetzt, friss, friss,
friss! Dieser Effekt setzt ein, auch ohne dass ich am Handy bin, was mir als Grund reicht, um mich so gut es geht von Instagram fernzuhalten, schließlich ist die Realität in der Einkaufsstraße schon schwer genug zu ertragen.
Wäre ich ein paar Jahre jünger, sähe das wahrscheinlich anders aus. Hätte ich den Raum und die Ressourcen gehabt, um zu reflektieren, wie stark, das, was mir auf Instagram täglich als die „wahre Welt“ präsentiert wird, von Ideologie durchtränkt ist und dabei behauptet, unpolitisch zu sein? Wenn mir Figuren, die wie Klone voneinander aussehen, mit denen ich mich identifizieren soll, vorleben, wie ein erfolgreiches, erstrebenswertes Leben aussieht, was darin vorkommt, worum es sich dreht, und worum nicht – hätte ich ihnen misstraut? Oder wäre ich den Affiliate-Links hinterhergejagt, für das nächste Skincare-Serum, das nächste Proteinpulver, den nächsten Lip-Plumper?
Was den Unterschied von der Einkaufsstraße in der analogen Welt zur Einkaufsstraße in der digitalen Welt ausmacht: Nichts hält mich davon ab, in den Bus zu steigen, in ein anderes Viertel zu fahren, sagen wir nach Altona, mich dort mit Freunden zu treffen und einer antikapitalistischen Demo anzuschließen. Das Geschäftsmodell der Social-Media Plattformen hingegen ist es, mich möglichst viel Zeit dort verbringen zu lassen und meine Aufmerksamkeit immer wieder neu zu ködern, sodass ich den Weg nach draußen nur schwer finde. Wozu auch? „Alltag“ und „Normalität“ gibt’s schließlich auch bei Instagram! Die einzige Konstante dabei, der Sinn, der Dreh- und Angelpunkt des Lebens, ist der Konsum. Auf ihn ist immer Verlass. „Du willst was für die Umwelt tun? Trink doch mal aus Bambusstrohhalmen. Du fühlst dich depressiv und permanent erschöpft? Für meine Self-Care nutze ich diese Vitaminaugenmaske. Du sorgst dich um unsere demokratischen Grundrechte? Wie wäre es mit Badeschlappen, auf denen „Vulvalette“ steht? Du willst schon gehen? Ach, bleib doch noch ein bisschen hier!“ -und ich richte meinen Blick weiter auf das Smartphone, womit gleichzeitig feststeht, worauf ich ihn nun nicht mehr richten werde. Die gezielte Lenkung des Fokus auf das Private, auf den eigenen Dunstkreis, das Abtauchen in ein Bad aus Produkten und sich überschwemmen lassen von Bildern einer Welt, in der nichts als Wohlstand existiert, ist die effektivste Maßnahme der Systemerhaltung. Instagram als der größte Treiber der Entpolitisierung. Und so sehr junge Menschen in die Situation reingeschubst wurden, eine Welt retten zu müssen, die sie selbst nicht kaputt gemacht haben, sind sie zu gewinnbringenden Produkten von Plattformen geworden, deren Regeln sie selbst nicht gestalten konnten. Wie wir genau da wieder rauskommen, weiß ich nicht. Ich weiß nur: All die Probleme, die ich zu Anfang des Textes geäußert habe, können nur gelöst werden, wenn wir uns nicht mehr als Konsument*innen begreifen, sondern als politische Wesen. Wenn wir die politische Macht, die wir in unseren Händen halten, wahrnehmen und zu Nutze machen, anstatt nur nach dem nächsten, dem nächsten, dem nächsten Produkt zu greifen. Wenn wir uns stattdessen gegenseitig an die Hände nehmen.
Vielleicht fühlt sich dann auch ein Spaziergang durch meinen Stadtteil wieder etwas echter an.