Cancel Culture – Hexenverbrennung auf dem Scheiterhaufen des Internets?

Maren Scholz

Wenn ich an Harry Potter denke, sehe ich mein 15-jähriges Ich vor mir, mit dicken Wollsocken vor dem Kamin sitzend und einem Buch auf dem Schoß. Einem Buch, in dem es um Hexen und Zauberer geht, die für eine gerechte Welt kämpfen. Ein Buch, dass Millionen Kinder und Jugendliche meiner Generation inspiriert und verzaubert hat. Ein Buch, geschrieben von einer Frau, die nun im Internet angeprangert wird, weil sie sich wiederholt diskriminierend gegenüber Transsexuellen geäußert haben soll.
J. K. Rowling, linksliberale Feministin und Schöpferin einer Welt, die sich gegen die Unterdrückung von Minderheiten auflehnt, soll nun einer Gruppe von Minderheiten ihre Identität absprechen. Der Shitstorm, der sich auf diese Nachricht hin ausbreitete, sucht bis heute seines Gleichen. Während der Hamburger Verlag Carlsen von aufgebrachten Menschen per Mail aufgefordert wurde, die Harry-Potter-Bücher aus dem Sortiment zu nehmen, konnte man auf TikTok Videos die Bücher auf dem wortwörtlichen Scheiterhaufen brennen sehen. Und das ist nur ein winziger Ausschnitt aus dem Tumult der Empörung und der Enttäuschung über den Fall einer Kindheitsheldin.

Fassen wir zusammen, was hier geschehen ist: Eine Autorin mit riesiger Reichweite äußert eine hoch kontroverse Meinung und eine Gruppe, die sich von dieser Meinung angegriffen fühlt, fordert, dass die Autorin samt literarischer Werke vom Antlitz der Medienlandschaft getilgt wird. Das Internet hat sogar einen Begriff für dieses Szenario: Cancel Culture. Es ist eine Form der persönlichen Ablehnung und des sozialen Ausschlusses von Personen, denen moralisch verwerfliches Handeln vorgeworfen wird. Es ist auch ein politischer Begriff, der unter anderem gern instrumentalisiert, um diskriminierende Äußerungen zu legitimieren, indem Kritiker der Zensur bezichtigt werden. Generell scheint Cancel Culture ein Instrument zu sein, dass im Internet dazu genutzt werden soll, selbsternannte Gegner mundtot zu machen. Aber was macht das mit uns als Gesellschaft, wenn wir andere Menschen aufgrund einer Aussage oder Tat verteufeln (sofern diese nicht explizit gegen geltendes Gesetz verstoßen)? Kann es sein, dass Cancel Culture unsere bereits kaputte Debattenkultur des Internets ruiniert und Diskussion auf Augenhöhe unmöglich macht?

Anhand des Falls Rowling wird ein großes Problem der Cancel Culture deutlich: Die geforderten Konsequenzen stehen oft nicht im Verhältnis zu den Vorwürfen. Gerade weil sich Cancel Culture oft gegen sehr emotional geladene Themen wie Homophobie, Rassismus, Sexismus oder soziale Gerechtigkeit richtet, ist der Wunsch nach persönlicher Bestrafung groß. Die betreffende Person soll am besten spurlos aus der Öffentlichkeit verschwinden. Für jemanden wie Rowling bedeutete dies, alle Bücher zu vernichten, die Filme nicht mehr anzusehen und das Merchandise nicht mehr zu kaufen. Aber wem ist damit geholfen? Es wird die Meinung der Autorin nicht ändern und die Diskriminierung von Transsexuellen nicht eindämmen. Literatur, Filme, Serien und Bilder zu verbannen (oder auch rückwirkend zu verändern), würde uns unserer literarischen und künstlerischen Vielfalt berauben. Wir hätten nicht mehr die Möglichkeit, sie als Momentaufnahme unserer Vergangenheit zu betrachten, sie im Kontext ihrer Entstehung zu verstehen und aus ihnen für die Zukunft zu lernen, unabhängig davon, wie inspirierend oder abscheulich wir sie oder ihre Autoren finden mögen.

Dass sich viele der Cancel Culture anschließen, ist nicht verwunderlich. Sie verleiht denjenigen Macht, die vorher keine besessen haben und ermöglicht es Minderheiten, lautstark auf die eigene Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen. Sie schafft es, eine millionenschwere Frau wie J.K. Rowling für ihre Aussagen zur Rechenschaft zu ziehen und andere zum Nachdenken zu animieren, bevor sie unreflektiert Äußerungen ins Netz posten. Das Problem an der ganzen Sache jedoch ist, dass Cancel Culture sich nicht einfach gegen die Aussage einer Person richtet, sondern gegen die Person selbst. So wird aus „J.K. Rowling hat sich kritisch gegenüber Transsexuellen geäußert“ – „J.K. Rowling ist transphob“. Jetzt könnte man sagen, wenn sich jemand beispielsweise wiederholt rassistisch äußert, dann ist derjenige vermutlich auch ein Rassist. Allerdings hat sich Rowling nie direkt gegen transsexuelle Menschen ausgesprochen. Sie hat sich vielmehr für ihr Verständnis der weiblichen Identität eingesetzt, um ihrer Vorstellung nach dadurch eine andere schutzbedürftige Gruppe zu verteidigen. Worum es also in diesem Streit geht, ist die Kollision zweier Identitätspolitiken. Und zwar die der Frauen, die sich vor dem Eindringen von Männern in weibliche Schutzräume fürchten, und die der Transsexuellen, die nicht für die Diskrepanz zwischen biologischem und sozialem Geschlecht in Frage gestellt werden wollen. Anstatt eines sachlichen Diskurses wird ein moderner Pranger erschaffen, bei dem es nicht mehr um berechtigte Kritik, sondern um Diffamierung und Hass geht. Ein einzelner sieht sich somit einer unverhältnismäßig hohen Zahl von Menschen konfrontiert, die auf Twitter zwischen Tür und Angel ihrem Ärger ungefiltert Luft machen. Ob aus persönlicher Betroffenheit oder nur, um Teil des Mobs zu sein. Zurück bleibt das verurteilte Individuum, sozial isoliert und öffentlich gebrandmarkt.

Ist es nachvollziehbar, dass sich viele Fans, die zudem Unterstützer und Mitglieder der LGBTQIA+-Community sind, sich von J. K. Rowling im Stich gelassen, vielleicht sogar verraten fühlen? Ganz klar! Ist es nachvollziehbar, dass man Frau Rowling für ihre Äußerungen öffentlich kritisiert? Auf jeden Fall! Sollten wir nun all unsere Harry-Potter-Werke verbrennen und den Namen J.K. Rowling ab sofort nur noch hinter vorgehaltener Hand murmeln als wäre sie Lord Voldemort höchstpersönlich? Definitiv nicht!
Die emotionale Natur der Cancel Culture erlaubt es meiner Ansicht nach nicht, eine öffentliche Diskussion auf Grundlage von Fakten zu führen. Aus dieser Art der Konfliktbewältigung kann nichts Konstruktives für die Zukunft mitgenommen werden. Es wird keine Lösung für das Problem von Vorurteilen und Diskriminierung gefunden. Im Gegenteil: Oft verhärten sich die Fronten der gegenüberliegenden Lager sogar noch.
Dass sich Minderheiten zur Wehr setzen, die seit Jahrzehnten diskriminiert und marginalisiert wurden, ist verständlich und unabdingbar für den sozialen Fortschritt. Überreaktionen sind menschlich und Folge der verinnerlichten Wut auf alle, die es wagen, die Legitimität des erlittenen Schmerzes in Frage zu stellen, ob durch Unachtsamkeit oder mit Intention. Dass es zu Streit kommt, lässt sich daher nicht verhindern. Was wir aber brauchen, ist eine Streitkultur, die in der Lage ist, gleichzeitig über Meinungsdifferenzen zu streiten und über Gemeinsamkeiten Bündnisse zu schließen. Vielleicht sollten wir nicht nur die Dinge sehen, in denen wir uns uneinig sind, sondern auch die anderen vielen Dinge, die wir eventuell gemeinsam haben. Denn wie Dumbledore zu sagen pflegte: „Wir sind nur so stark, wie wir vereint sind und so schwach, wie wir getrennt sind“.