genesis vii

Vincent Ladiges

Ein Mensch der industrialisierten und mediatisierten Welt des 21. Jahrhunderts ist einer unerbittlichen Flut von Informationen ausgesetzt, der zu entkommen durch die Notwendigkeit einer digitalen Präsenz nur den Privilegierten zukommt. Bisher hat sie jeden regulatorischen Wall mühelos überwinden, jeden gesellschaftlichen Damm einreißen und sich selbst verstärkend in jeden Teil des Lebens einfügen können. Die Medienpädagogik positioniert sich durch die Entwicklung von Medienkompetenzen, der Untersuchung von Mediensozialisiation und der Erarbeitung einer effektiven Medienerziehung als Bastion zu einem unerbittlichen Sturm technischer Entwicklungen.

Die Forschung, die Formulierung neuer Theorien, ihre Umsetzung und die Untersuchung ihrer Wirkung benötigen Zeit. Diesen zeitintensiven, (medien-)pädagogischen Prozessen steht ein exponentieller Wachstum der Informationsverarbeitung entgegen. Bohn und Short (Measuring Consumer Information, San Diego, 2012) errechneten eine jährliche Zunahme der täglich konsumierten Informationen eines durchschnittlichen amerikanischen Erwachsenen um 5.4% in den Jahren zwischen 1980 und 2008. Im Schnitt würden 34 GB Daten am Tag, etwa 3.15 Millionen Bits pro Sekunde, an Medien konsumiert. Dem Gegenüber stehen 11 Millionen Bits pro Sekunde, die unsere Sinne wahrnehmen und 50 Bits pro Sekunde welche das Bewusstsein verarbeiten kann (The half-second delay: what follows?, William, London, 2006). Die Folge ist eine wortwörtliche Informationsüberflutung.

Nicht nur die Menge der Informationen, auch ihr Inhalt ist überwältigend. Eine nicht endende, nicht abebbende Flut aus Nachrichten über Hunger, Leid, Machtmissbrauch, Katastrophen und Tod, aus profitgetriebener Manipulation, ständiger Ablenkung von unserer Welt, zerstörerischen Schönheitsidealen, und Hass, bricht ihre Wellen über den Köpfen der Menschen. Psycholog:innen wie Adli berichten über eine Zunahme an Patient:innen, welche die Welt nicht mehr verarbeiten können (Wie schlechte Nachrichten krank machen, Deutschland Funk, 2019). Nachrichten versuchen Leid, oder müssen mit einer unmenschlichen Distanz betrachtet werden. „Der Tod eines Menschen: das ist eine Katastrophe. Hunderttausend Tote: das ist eine Statistik!“ schrieb einst Tucholsky (Lerne lachen ohne zu weinen, 1931). Unser apathsicher Umgang mit durchaus lösbaren Notständen wie der Flüchtlingskrise, der Klimakrise, Armut und Hunger gibt ihm recht. Der Mensch scheint überfordert mit der Welt, und den medialen Neuerungen der letzten Jahrzehnte, die ihm immer neue, immer tiefere Einblicke in diese Welt geben.

Die (Medien-)Pädagogik entwirft als Antwort auf die neuen, sich ständig wandelnden Problematiken, immer neue Lösungen, für einen Menschen, der dieser Flut standhalten können soll. Er soll sich sich kritisch mit Medien auseinandersetzen, Kompetenzen erwerben und die mediale Landschaft gestalten. Er wird gut gerüstet, ohne zu fragen, ob er das Rüstzeug nützen kann, in dieser Schlacht nicht Soldat sondern Zivilist in Uniform. Dieser Mensch, dem Sozialisations- und Bildungstheorien, Kompetenzentwürfe und Reformbegehren zugrunde liegen, scheint ein bizarres, Mischwesen aus vagem humanistischem Weltbild, liberalistischem Selbstzweck, und daraus resultierenden, dogmatischen Prämissen für die Gesellschaftswissenschaften, zu sein. Er sei gut, er sei frei, er sei in der Lage das Steuer in die Hand zu nehmen, seinen Kurs selbst zu wählen, ungeachtet der Ströme, soll gegen den Wind kreuzen, soll navigieren lernen, inmitten eines Sturmes, der seine Arche längst aus dem Ruder laufen ließ. Es scheint unerheblich ob er tatsächlich frei ist, ob er handlungsfähig ist, ob dieser idealisierte Mensch existiert oder erstrebenswert ist. Er ist das Zentrum seiner Welt, und während sich alles um ihn dreht, soll er die Kontrolle behalten.

Baacke (Medienkompetenz, Bad Heilbrunn, 1996), als Exempel für die Erwartungshaltung an diesen Menschen, formuliert vier Dimensionen erstrebenswerter Medienkompetenzen: Die Medienkunde, die Medienkritik, die Mediennutzung und die Mediengestaltung. Da sich Medien, heute schneller denn je, verändern, müssen sich auch die Ausprägungen dieser Kompetenzen ständig anpassen. Ein medienkundiger Mensch des 20. Jahrhundert wird sich im 21. Jahrhundert kaum zu recht finden, was vor 10 Jahren galt ist heute kaum noch hilfreich. Ein kritischer Blick auf neue und alte Medien kann kaum noch jedes Problem erfassen, sofern menschliche Augen überhaupt in der Lage sind die Komplexität der Welt zu durchdringen. Die Menge der nutzbaren Medien macht Beschränkung auf einige wenige erforderlich, lässt durch die enge Fokussierung unser kritischen Betrachtung vieles außen vor, und die Nutzung vieler verschiedener Medien zum Selbstzweck werden. Sollte dieser Mensch versuchen tatsächlich die Medienlandschaft zu gestalten, so gestaltet sie viel eher ihn, und alle Spuren, alle Kratzer die er ihr zufügt, werden, für ihn schmerzhaft, erwidert.

Abgesehen von wenigen Privilegierten, die sich dieser Welt entziehen oder sich tatsächlich ausreichend (weiter)bilden können, ist dieser Mensch zum Untergang verurteilt. Wenn nicht mit der aktuellen Welle medialer Neuerung, so wird er von der Nächsten, der Übernächsten, oder Einer der wohl unzähligen am Horizont anstürmenden, überwältigt. Ihm bleibt wenig, außer sich verzweifelt an das Treibgut zu klammern, welches von seiner Medienbildung geblieben ist und seine erlernten Kompetenzen zur Meisterung von Herausforderungen zu nützen, für die sie nicht entworfen wurden, für die sie nicht ausreichend sind. Auf bis dato nie gestellte Fragen bleibt wenig mehr als reaktionäre Antworten. Probleme werden durch ihre schlichte Negation aufgelöst, Kompetenzen deren erwünschte Wirkung nicht ausreicht, lediglich mit mehr Kompetenz beantwortet. Doch statisch, unverändert, als tragischer Fels in der Brandung, der langsam abgetragen wird, bis zur Depression, machtlos, bis Apathie oder Suizid dem langsamen Ertrinken ein Ende setzen, steht ein Menschenbild, welches niemals den Hauch einer Chance hatte.

Welcher Mensch hat tatsächlich nachhaltigen Nutzen von Medienkompetenzprojekten, Bildungsreformen und Mediensozialisation? Die Kompetenzen die Medienpädagogik im Moment vermitteln kann, scheinen kaum ausreichend. Was fehlt ist ein Mensch, der mit dem was die Medienpädagogik bietet, etwas anfangen kann. Ein wunderbares Theoriegebäude aus vielen wertvollen Erkenntnissen, wichtigen Methoden und reicher Geschichte steht, jedoch ist das Fundament alt und marode. Es braucht Erneuerung, es braucht Widerstandsfähigkeit und Anpassungsfähigkeit, nicht nur heute, sondern immer. Ein Anspruch, dem ein zweiseitiger Essay niemals genüge tun kann, den er nur umreißen kann.

Es braucht einen desillusionierten Menschen, der sich von weltfremden Idealen löst, von seinem anthropozentristischen Thron in die Welt hinab steigt, der nicht sich selbst begründeten System wie Nationen oder Wirtschaftsordnungen dient, sondern sich selbst und anderen, einen der Wettkampf durch Zusammenarbeit ablöst, der von Beobachter zu Schaffer seiner Welt werden kann. Ein Mensch, der seine Empathiefähigkeit zu nutzen lernt, der seine Grenzen und seine Möglichkeiten kennt, mit seiner eigenen Begrenztheit umgehen kann, und sie mit anderen gemeinsam überwinden lernt. Ein Mensch, der im Kollektiv erwacht und die Welt verändert. Es braucht aufmerksame, rebellische Wesen, einen „Mensch in der Revolte“ (Camus, 1951). Tag täglich schaffen wir einander, und so können wir uns auch bewusster und zielgerichteter schaffen. Während es für viele von uns heute heißt schwimm oder stirb, wir häufig nur flehend, verzweifelt die Hände zum Schutz vor einem sich immer weiter öffnenden Fenster in eine grausame Welt erheben könne, so kann diese Sintflut auch die Grundlage für eine neue Welt und ein neues Menschenbild sein, für einen Abschied vom gezeichneten Fels und den Bau einer neuen Arche.