Zwischen Twerken und Ententanz

Joseifine Ley

Vor nicht allzu langer Zeit wurde mir auf Netflix das provokante Cover des Films „Cuties“ vorgeschlagen. Zu sehen sind 4 Mädchen in kurzen, glitzernden Outfits, stark geschminkt in sexy Posen. Diese Mädchen hätte ich nicht älter geschätzt als 11 Jahre. Und tatsächlich bestätigte sich meine Annahme, als ich den Film anschließend selbst gesehen habe.

Thema des Films ist das Leben eines 11 jährigen Mädchens, das mit ihrer Familie nach Frankreich zieht und zunächst kaum Anschluss findet. Als sie ein paar Gleichaltrige beim Tanzen beobachtet, bringt sie sich das Tanzen mithilfe einiger Videos aus dem Internet selbst bei und freundet sich schließlich mit ihnen an. Höhepunkt des Films ist ein Tanzwettbewerb, auf den die Freundinnen den gesamten Film hingearbeitet haben.

Nichts an dieser Geschichte scheint auf den ersten Blick auffällig oder gar verwerflich zu sein. Weswegen dieser Film jedoch in die Kritik geraten ist, ist die Art und Weise WIE die Mädchen tanzen. Ihr Tanzstil lässt sich weder bei Hip Hop, noch bei Ballett oder gar Jazz verorten. Die Mädchen tanzen genau das nach, was ihnen im Internet vorgeschlagen wird. Sie tanzen das, was im Internet am meisten Likes bekommt, am besten ankommt. Und am meisten Likes bekommen häufig Frauen mit wenig Kleidung, viel Schminke und vielen Kameraeinstellungen auf Hintern und Hüfte.

Dementsprechend sind im Film vier 11- jährige Mädchen zu sehen, die in Röcken, die kaum ihren Kinderpo bedecken, die Beine spreizen, auf dem Boden liegend die Hüften auf und ab bewegen und mit halb geöffnetem Mund twerken. Das sorgte für hitzige Debatten. Wie könne man Kinder so darstellen, der gesamte Film sei höchst verwerflich.

Dieser Film inspirierte mich für mein Foto, das die Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Kinder und Medien einfangen sollte. Zu sehen ist meine kleine Schwester, in ihrem Bett, von Kuscheltieren umringt. Zum Entspannen schaut sie sich auf You Tube Videos ihrer Stars an. Stars, die immer schon eine Vorbildfunktion für Kindern hatten, testen auf Social Media ihre Grenzen. Für wie viel nackte Haut bekommt man die meisten Likes, bevor das Video gesperrt wird, weil beispielsweise Brustwarzen zu sehen sind? In dem Film ist also tatsächlich nur eine alltägliche Situation überspitzt dargestellt. Auch wenn meine Schwester selbst nicht sofort ihren Kleidungsstil ändert und sich halb nackt im Internet präsentiert, orientiert sie sich bis zu einem gewissen Grad an dem, was ihr ihre Idole vorleben.

Das Aussehen spielt dabei meist die größte Rolle. Schönheitsideale sind in der Gesellschaft klar definiert und werden von bekannten Persönlichkeiten im Internet vor einem Millionenpublikum ungefragt reproduziert. Teil dieses Publikums sind seit einiger Zeit auch Kinder, die unreflektiert auf die Inszenierung körperlicher Eigenschaften wie ein flacher Bauch oder lange Haaren als das Ideal, zugreifen können. Dadurch werden kleine Mädchen verstärkt schon in immer jüngeren Jahren zur Weiblichkeit erzogen.

Tatsächlich wertet der Soziologe Pierre Bourdieu das Aussehen einer Frau sogar als kulturelles Kapital. Nach seiner Theorie ist jeder Mensch im Besitz von drei Kapitalarten, dem ökonomischen, dem kulturellen und dem sozialen Kapital. Bei dem sozialen Kapital handelt es sich um inkorporiertes, körpergebundens Kapital, das sich in ökonomisches Kapital umwandeln lässt. Beispielsweise lässt sich Bildung als kulturelles Kapital in einem hohen Schulabschluss sichern, das sich in einen gut bezahlten Job und somit ein hohes ökonomisches Kapital umwandeln lässt. Und wie Frauen ihr Aussehen als kulturelles Kapital nutzen können, wird seit des Aufkommens sozialer Medien besonders deutlich. Je mehr nackte Haut zu sehen ist, desto besser kommt der Post beim Publikum an.

Das stellen auch die Mädchen in dem Film „Cuties“ fest und eifern den erwachsenen Frauen nach. In dieser Situation ist ein ungehinderter Zugang von Kindern zu Sozialen Netzwerken in Kombination mit fehlender Medienkompetenz meiner Meinung nach ein verheerendes Problem. Dadurch verlassen Kinder den „Schonraum Kindheit“ und begeben sich ungefiltert und unreflektiert in die Welt von Erwachsenen. Ohne die Spielregeln dieser Welt zu verstehen, fangen sie an, eifrig mitzuspielen.

Baacke teilt eben diese fehlende Medienkompetenz in die vier Dimensionen Medienkunde, Mediennutzung, Mediengestaltung und Medienkritik ein. Das Ziel einer Medienkompetenz ist nicht klar formuliert und so fehlen auch Altersgrenzen, bis zu denen ein Kind eine gewisse Kompetenz vorzuweisen hat. Als Grundlage wird jedoch die Medienkunde und -kritik gewertet, auf die anschließend auf Basis von Grundwissen über die Strukturen und Funktionsweisen von digitalen Medien, eine Mediengestaltung und -nutzung für die eigenen Bedürfnisse erfolgen kann.

Zu viele Kinder erlernen gerade diese Dimensionen der Medienkompetenz allerdings nicht, bevor sie die Möglichkeit haben, selbst auf digitale Meiden zuzugreifen. Ab diesem Moment haben sie Partizipationsmöglichkeiten, die ihnen vorher verschlossen waren, über die sie aber keineswegs aufgeklärt sind. So verstehen viele Mädchen nicht, an wen sich ihr Video im kurzen Kleid und sexy Posen auf Tik Tok richtet. Keiner hat sie über die Bedeutung der Symbole aufgeklärt, die erwachsene Frauen benutzen und noch weniger wurden sie über die Auswirkungen dieser Symbole auf Sozialen Medien informiert.

Die Mädchen verlassen also den „Schonraum der Kindheit“ und stehen ohne Bezugsperson in einer Welt, die für viele Erwachsene, die ohne digitale Medien aufgewachsen sind, nicht mehr verständlich oder greifbar ist. Natürlich wäre in diesem Moment eine Anpassung der genutzten Medien an die Altersklasse die erste logische Klonsequenz. Ein „Instagram für Kinder“ birgt doch beispielsweise das Potenzial, dass Kinder sich online kreativ austoben können, ohne ihren Schonraum der Kindheit zu verlassen. Der Inhalt in den sozialen Medien würde schlicht altersgerecht angepasst werden. An dieser Stelle merkt die Autorin Rebekah Willet allerdings zurecht an, dass Kinder Webseiten bevorzugen, die sich nicht ausdrücklich an ihre Altersstufe richten. Ich selbst war schnell gelangweilt von „Blinde Kuh“ und wollte die Suchmaschine benutzen, die auch Erwachsenen benutzen. Nicht anders wird es mit sozialen Plattformen sein. So wichtig eine möglichst hohe Medienkompetenz schon in jungen Jahren als Reaktion auf den ungehinderten Zugang von Kindern auf digitale Medien also ist, bleibt die Frage, worauf die im Idealfall erlernte Medienkritik im Fall der Mädchen im Film „Cuties“ abzielen soll. Sollen sie die angesprochene Zielgruppe erkennen können und eher den Ententanz als die twerkende Frau für sich annehmen, sollen sie kritisch den Wahrheitsgehalt hinter Videos von Frauen mit makelloser Haut und perfekt geschwungenen Wimpern erkennen oder geht es gar um eine kritische Reflexion der sexualisierten Darstellungen von Frauen generell?

Die Bedeutung der weiblichen Körpers gewinnt mit der Popularität sozialer Medien immer mehr an Bedeutung. An wen richteten sich also sexualisiert dargestellte Frauen, wenn sie für unserer Kinder unzugänglich sein sollten? Es wäre naiv zu glauben, dass das Millionenpublikum von Stars auf Instagram, die ihren Körper nach vorgegeben Schönheitsidealen inszenieren, nur aus unaufgeklärten Kindern und Pädophilen besteht. Es ist die große Masse, die eine Reduzierung der Frau auf ihren Körper auch in heutiger Zeit immer stärker unterstützt und somit Mittäter an der Reproduktion von Schönheitsidealen ist, vor denen wir unsere Kinder paradoxer weise fernhalten wollen. Ich frage mich, ab welchen Alter es für angemessen empfunden wird, Frauen nicht wie im Kindesalter nach geistigen oder sportlichen Stärken zu messen, sondern der Körper, gebunden an vorgegeben Schönheitsideale, alle anderen Fähigkeiten und Stärken verdrängt. Wenn man Kindern durch das hohe Aufkommen neuer digitaler Medien nicht den Zugriff zu einer Welt der Erwachsenen verhindern kann, ist es vielleicht Zeit, Kinder in eine Welt hineinwachsen zu lassen, vor der wir sie nicht zuvor panisch schützen mussten.

Literaturverzeichnis

Dangendorf, S.: Kleine Mädchen und High Heels. Über die visuelle Sexualisierung frühadolzenter Mädchen, Bielefeld 2012.

Lampert, C.; Süss, D.; Trültzsch-Wijen, C.: Medienpädagogik. Ein Studienbuch zur Einführung, Wiesbaden 2018.

Bourdieu, P.: oekonomisches, kulturelles und soziales Kapital, in: Theorien der Sozialisation : Erlaeuterungen, Texte, Arbeitsaufgaben, hrsg. v. F. Baumgart, Klinkhardt 2008, S. 217-231.